In jedem Jahr reist das Institut KMM mit seinen Studierenden in eine europäische Stadt, um vor Ort Kultur- und Medieneinrichtungen zu besuchen und sich über Entwicklungen, Probleme und Spezifika der örtlichen Kulturlandschaft zu informieren und auszutauschen. Nach Liverpool, Reykjavik und zuletzt St. Petersburg fiel die Wahl in diesem Jahr auf Tallinn, die nördlichste Hauptstadt des Baltikums. Mit 40 Studierenden, darunter Präsenz- und Fernstudierende, ging es in die 400.000-Einwohner-Stadt, die unter dem Motto „Stories of the Seashore“ in diesem Jahr den Titel „Europas Kulturhauptstadt“ trägt.
„The largest storytelling event in Tallin‘s history“ verspricht das Programm der Kulturhaupstadt, darunter zahlreiche Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, in denen Künstler des Landes estnische Geschichte(n) erzählen. Eine dieser Geschichten handelt von der Distanziertheit der Esten zum Meer, gleichzeitig auch das Hauptthema des Programms. Die Abkehr der Bevölkerung vom Meer ist ein Relikt aus der Sowjetzeit, als die Ostsee die Grenze zum westlichen Teil Europas markierte. Noch heute lässt sich in Tallinn erkennen, wie diese Distanz Menschen, Kultur und Stadtbild geprägt hat.
Das Programm selbst bietet jede Menge Höhepunkte, darunter z.B. die Ausstellung „gateways“ im KuMu Art Museum (13. Mai bis 25. September), die sich mit Kunst, Medien und vernetzter Kultur beschäftigt, das Musikfestival „Suure Jaani“ (17. bis 23. Juni), bei dem das künstlerische Erbe estnischer Komponisten, Künstler und Schriftsteller präsentiert wird, ein Sonnenaufgangskonzert um 03.00 Uhr am Morgen (23. Juni), das Strohtheater, eine Installation im öffentlichen Raum mit kulturellem Programm (Mai bis September), oder das Geriljakino, bei dem der städtische Raum zur Fläche für spontane Kinoprojektionen umfunktioniert wird.
Über die Ideen, Projekte und Hintergründe des Hauptstadtprogramms sprachen wir mit Anu Kivilo, der Leiterin des Tallinn2011-Büros. Im Verhältnis zu ihrer Vorgängerin, der Ruhr.2010, fallen Budget und Programm der Kulturhauptstadt Tallinn um einiges geringer aus, dennoch haben es die Organisatoren geschafft, ein in seiner Größe und Vielfalt beeindruckendes Programm zusammenzustellen, das auch von der internationalen Presse mit viel Lob gewürdigt wurde. Die Esten selbst nehmen die Kulturhauptstadt und ihr Programm ebenfalls begeistert an. Ein Beweis hierfür mögen allein die zahlreichen Volunteers sein, die als Freiwillige in den Straßen Tallinns am Erfolg des Programms mitwirken. Und auch auf die Touristen hat sich die Kulturhauptstadt vorbereitet: Für alle Volunteers, Gastronomiepersonal und Co gab es ein Gastfreundlichkeits-Training.
Neben dem Besuch von Kulturhauptstadtprojekten standen für uns weitere Kultur- und Medieneinrichtungen auf dem Programm. So besuchten wir die Estonian Academy of Music and Theatre, eine Partnereinrichtung der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Beim Studiengang Kulturmanagement, an dem auch einige frühere KMM-Dozenten wirken und gewirkt haben, informierten wir uns über Studium und Studienalltag. Das Estnische Museum für Zeitgenössische Kunst (EKKM) wurde als Initiative von unten und als Protest gegen die estnische Kulturpolitik gegründet, wie uns Mitbetreiber Anders Härm erläuterte. Das EKKM versteht sich als eine andersartige Form der musealen Institution: erklärte Ziele des Betreiberkollektivs sind hierbei die ständige Infragestellung des Konzepts „Zeitgenössisches Museum“ und zugleich die Schaffung von Gegenöffentlichkeiten durch unkonventionelle Ausstellungen. Die Präsentation der nominierten Künstlerwerke für den hauseigenen Köler-Preis in den alten Fabrikräumen nah der Ostsee unterstrich dies eindrucksvoll.
Spannende Einblicke bot der Besuch des Kreativwirtschaftszentrums Telliskivi westlich der Altstadt, wo auf dem ehemaligen Gelände der Kalinin-Fabrik in den nächsten fünf Jahren Raum für ein kreatives Netzwerk aus Kunst, Kultur, Bildung, Wissenschaft und Creative Industries geschaffen werden soll. Ein privater Investor trägt die Umnutzung der Fabrikgebäude zu neuen Schaffensräumen mit, die entstehenden Mieten werden zu Neu-Investitionen genutzt. Einige Kreative haben sich hier bereits angesiedelt und gehen ihrem Gewerbe nach. In Eigenregie wurde ein Restaurant eingerichtet, auch für einen Kindergarten wurde schon gesorgt, als nächster Meilenstein der Geländeerschließung ist der Ausbau einer der Hallen zu einer Theaterspielstätte geplant.
Damit wäre eine weitere Stadt auf der KMM-Exkursionslandkarte abgehakt. Für das nächste Jahr haben die Planungen bereits begonnen. Der 22. Jahrgang hat sich für das Reiseziel Jerusalem entschieden und die Vorarbeiten hierfür aufgenommen.